Interview mit Professor Dr. Martin Horstmann, Wissenschaftlicher Leiter des Forschungsinstituts Kinderkrebs-Zentrum Hamburg und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, anlässlich des Weltblutkrebs-Tages am 28. Mai 2023.Prof. Horstmann, welche Krebsart kommt besonders häufig vor bei Kindern?

 Die akute Lymphatische Leukämie (ALL), eine bösartige Erkrankung des blutbildenden Systems, ist die häufigste Krebserkrankung bei Kindern – gefolgt von Hirntumoren und Lymphomen. In Deutschland erhalten jedes Jahr rund 2.200 Kinder die Diagnose Krebs, ca. 600 Kinder davon erkranken an einer ALL. Am häufigsten betroffen sind Kinder zwischen 1 und 5 Jahren. Jungen erkranken etwas häufiger an einer Leukämie als Mädchen.

Warum erkranken Kinder besonders häufig an Blutkrebs?

Die Ursachen, die zu einer ALL führen, sind noch weitgehend unbekannt. Wir wissen, dass die Erkrankung durch bösartige Veränderungen von Vorläuferzellen der Lymphozyten entsteht und mit einer Erbgutveränderung der Zellen einhergeht. Oft treten diese ersten genetischen Veränderungen bereits im Mutterleib, also während der Schwangerschaft, auf. In ca. 15% der Fälle finden wir spezifische genetische Veränderungen nicht nur in den Leukämiezellen, sondern in der Keimbahn und somit in jeder Körperzelle. In diesen Fällen ist die genetische Veränderung vererbt worden oder als Neumutation spontan in den Keimzellen entstanden. Was wir nicht wissen, ist, warum es zu der Erbgutveränderung kommt und wieso diese manchmal zu einem Ausbruch einer ALL führt und manchmal nicht. Ererbte oder erworbene Immundefekte (z.B. Down-Syndrom, Fanconi-Anämie oder Louis-Bar-Syndrom) können die Entstehung einer ALL begünstigen. Zudem scheint es einen Zusammenhang von Leukämieentstehung und Infektionen zu geben. So stellt man eine erhöhte Leukämieinzidenz bei Kindern fest, die keine Impfungen erhalten haben oder im frühen Kindesalter nur selten Infektionen ausgesetzt waren. Externe Faktoren wie freiwerdende ionisierende Strahlung durch Atomkraft, kanzerogene Nahrungsmittel oder Passiv-Rauchen scheinen naheliegend, lassen sich aber bei Kindern als Ursache einer Leukämie nicht sicher nachweisen.

Wie hoch sind die Heilungschancen von Leukämien im Kindesalter? 

Die Heilungschancen hängen von der jeweiligen Leukämieunterform ab. Heute können wir über 90 Prozent der betroffenen Kinder mit ALL heilen. Das ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass diese Kinder vor wenigen Jahrzehnten kaum Überlebenschancen hatten. Doch zahlen die Kinder für ihr Überleben nicht selten einen hohen Preis: Die zum Einsatz kommenden klassischen Therapieformen wie Chemotherapie oder die Stammzelltherapie stellen eine starke Belastung dar. Akute Nebenwirkungen treten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf. Besorgniserregend sind auch die teilweise gravierenden Spätfolgen, wie Herz- oder Nierenerkrankungen, Hormonstörungen, kognitive Beeinträchtigungen oder gar eine weitere, durch die Behandlung hervorgerufene Krebserkrankung. 

Wie machen sich Leukämien im Kindesalter bemerkbar?

Durch die ungehemmte Teilung der Leukämiezellen kommt es zu einer Störung der normalen Blutbildung, und so zu einem Mangel an funktionstüchtigen weißen Blutkörperchen, roten Blutkörperchen und Blutplättchen. Typische Symptome sind Abgeschlagenheit und Blässe, fieberhafte Infektionen, Haut- und Schleimhautblutungen und nicht selten Knochenschmerzen. Im späteren Stadium kann sich die Krankheit aufgrund der Ausbreitung der Leukämiezellen im gesamten Körper durch verschiedene weitere, organbezogene Beschwerden bemerkbar machen.

Was sind Ihre aktuellen Forschungsprojekte?

Am Forschungsinstitut Kinderkrebs-Zentrum Hamburg forschen wir an der Entstehung von Krebs im Kindesalter und an innovativen präzisionsmedizinischen sowie immuntherapeutischen Behandlungsformen. Forschungsschwerpunkte sind die Entstehungsmechanismen der ALL sowie die Weiterentwicklung sogenannter CAR-(Chimeric Antigen Receptor) basierter zellulärer Immuntherapien im Rahmen personalisierter Behandlungskonzepte. Unsere Teams entwickeln zum einen spezielle, auf Zuckermoleküle abzielende CAR T-Zellen, die als Zielstrukturen auf Leukämiezellen getestet werden. Zum anderen werden in unserem Labor CAR-tragende Natural Killer Zellen (NK) aus genetisch programmierten pluripotenten Stammzellen gezüchtet, die eine stark gesteigerte antileukämische Aktivität aufweisen und das Spektrum der zellulären Immuntherapien für die ALL im Kindesalter erweitern könnten.